Ein Vorbild an Untadeligkeit, Menschlichkeit und Mut
Die Humboldt-Universität zu Berlin und das Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik trauern um Konrad Gröger. Der Mathematik-Professor und ehemalige Dekan und Vizepräsident an der Humboldt-Universität und das Ehrenmitglied des Weierstraß-Instituts ist im Alter von 84 Jahren gestorben.
- ein Nachruf von Alexander Mielke und Jürgen Sprekels -
Die Berliner Mathematik hat einen ihrer bedeutendsten Wissenschaftler und eine große Persönlichkeit verloren: Professor Konrad Gröger ist am 14. September 2020 in Berlin verstorbenKonrad Gröger hatte einen für einen Wissenschaftler sehr ungewöhnlichen Werdegang, der wesentlich von seiner persönlichen Einstellung zu den damaligen politischen Verhältnissen in der DDR geprägt wurde. Schon während seines Mathematik-Studiums, das er von 1953 bis 1958 an der Humboldt-Universität zu Berlin absolvierte, und danach während seiner Aspirantur am Forschungsinstitut für Mathematik der Akademie der Wissenschaften (AdW) der DDR, verteilte er Flugblätter mit politischem Inhalt. Im Jahr 1960 wurde er verhaftet und wegen „Spionage und staatsgefährdender Hetze” zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Während dieser Zeit durfte er aufgrund der Intervention engagierter Kollegen mathematische Fachliteratur übersetzen.
Von seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1965 war Gröger bis 1970 am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der AdW tätig. 1968 promovierte er bei Arno Langenbach mit der Arbeit „Variationsmethoden für Gleichungen mit ausgearteten Operatoren”. 1970 wechselte er an das Vorgängerinstitut des heutigen Weierstraß-Instituts, das Institut für angewandte Mathematik und Mechanik der AdW. Dort war er bis 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter, und er habilitierte sich 1973 mit der Arbeit „Zur Regularität und Approximation von Lösungen nichtlinearer Evolutionsgleichungen”. 1990 wurde Gröger zum Honorarprofessor für Analysis an die Humboldt-Universität zu Berlin berufen und 1993 als ordentlicher Professor Nachfolger seines Lehrers Arno Langenbach. Von 1994 bis 1996 war er Dekan seiner Fakultät und von 1996 bis 1998 Vizepräsident der Humboldt-Universität.
Konrad Gröger hinterlässt ein beeindruckendes wissenschaftliches Erbe, das wichtige und international anerkannte Beiträge zur Theorie partieller Differentialgleichungen und deren Anwendungen in der Hydrodynamik, Thermodynamik, chemischen Kinetik und Halbleiterelektronik umfasst. Er war ein im besten Sinne „angewandter” Mathematiker, der vielfältige Kontakte zu Kollegen aus anderen Fachdisziplinen unterhielt. Dabei hatte er immer das feste Ziel vor Augen, das tatsächliche Anwendungsproblem zu lösen und nicht eine vereinfachte Version. Insbesondere seine Arbeiten zusammen mit Herbert Gajewski und weiteren Koautoren zur mathematischen Modellierung des Ladungstransports in Halbleiterbauelementen erzielten in den 1980er Jahren einen internationalen Durchbruch. Mit ihnen wurde wissenschaftliches Neuland betreten, und sie schufen die Voraussetzungen dafür, dass heute leistungsfähige Simulationssoftwaresysteme für die Entwicklung moderner Halbleiterbauelemente zur Verfügung stehen.
Außerdem war Konrad Gröger ein hervorragender akademischer Lehrer. Seine zusammen mit Herbert Gajewski und Klaus Zacharias verfasste Monographie „Nichtlineare Operatorgleichungen und Operatordifferentialgleichungen” aus dem Jahr 1974 diente mehreren Generationen von Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als Standardwerk für nichtlineare Analysis, monotone Operatoren und deren Anwendung auf partielle Differentialgleichungen. Seine seit Anfang der 1980er Jahre an der Humboldt-Universität zu Berlin abgehaltenen Vorlesungen über nichtlineare Analysis und partielle Differentialgleichungen haben einen geradezu legendären Ruf.
Auch nach dem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2001 hat sich Konrad Gröger in der Förderung mathematisch interessierter junger Menschen engagiert. So unterstützte er über viele Jahre regelmäßig die Durchführung der Mathematik-Olympiaden. Vor allem aber leitete er in vielen Sommerschulen „Lust auf Mathematik” Schülerinnen und Schüler dabei an, sich sehr anspruchsvolle mathematische Inhalte anzueignen. Seine Sommerschulkurse zu Themen wie Differentialgleichungen, metrische Räume, Konvexität, Banachscher Fixpunktsatz oder Fourier-Reihen begeisterten Schülerinnen und Schüler, was nicht nur sein mathematisches, sondern insbesondere auch sein pädagogisches Talent unterstreicht.
Konrad Gröger wurde im Jahr 1998 der Verdienstorden des Landes Berlin verliehen, und seit 2001 war er Ehrenmitglied des Weierstraß-Instituts. Zu seinem 80. Geburtstag wurde er für seine Verdienste um die deutsch-tschechische Zusammenarbeit mit der Ehrenmedaille für Mathematik der Tschechischen Mathematischen Gesellschaft ausgezeichnet. Konrad Gröger war ein wunderbarer Mensch, der voller Humor und Ehrlichkeit, aber auch Einfühlsamkeit war. Seine persönliche Integrität, seine Aufrichtigkeit, sein untadeliges Verhalten, sein mutiges Eintreten für Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit und sein charaktervolles Wesen waren tief beeindruckend. Wir haben ein hoch angesehenes Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinschaft und einen wahren Freund verloren. Auch durch seine bis zu letzt rege und konstruktiv-kritische Teilnahme am Berliner Oberseminar für Nichtlineare Partielle Differentialgleichungen (Langenbach-Seminar) behalten wir ihn in guter Erinnerung. Unsere Gedanken sind in diesen Stunden der Trauer bei seiner Familie.